4.Fortsetzung
Poesie auf einem Brett
Problemschach als ästhetischer Ausdruck
Bo Lindgren - Stockholm
In Deutschland tritt die Neudeutsche Schule hervor und wird ein Gegenpol
zur Böhmischen. Zwischen diesen beiden begann ein langwieriger Kampf, und bei der hierauf
folgenden Zusammenfassung der Debatte finden die beiden Richtungen schließlich ihre Form.
Die eine wird ausgesprochen ästhetisch, und die andere wird durch einen aus logischen
Gründen streng durchgeführten Ideengehalt charakterisiert. Wenn das böhmische Problem
bisweilen so federleicht werden kann, dass es mit einer Blumenpoesie verglichen werden
kann, kann das neudeutsche Problem seinerseits so spitzfindig werden, dass man schon
längst keine Idee mehr gewahr werden kann.
Im Anfang der zwanziger Jahre trat ein böhmischer Problemist namens Plesnivy hervor. Das
war während der Blütezeit der Böhmischen Schule. Unter starkem Protest der Tschechen
versuchte Plesnivy die Böhmische Schule mit Elementen aus der Neudeutschen zu vereinen.
Die Reaktion der Tschechen war leicht verständlich, aber Plesnivy war trotz allem sehr
scharfsinnig. Er sah, dass die Blütezeit der Böhmischen Schule bald vorbei wäre und
dass sie Schwierigkeiten haben würde, sich zu erneuern, wenn sie nicht Ideen von außen
aufnehmen würde. Es wäre indessen übereilt zu glauben, dass die beiden Schulen
verschmelzen. Die Grenzen wurden geöffnet, was vor allem der Böhmische Schule einen
Energiezuschuss gegeben hat, der bei weitem noch nicht voll ausgenutzt worden ist.
Meine Zusammenfassung der Entwicklung ist ziemlich summarisch, einer Entwicklung, die
übrigens noch gar nicht beendet ist. Die Positionen können zur Zeit als erstarrt
bezeichnet werden, was möglicherweise darauf beruht, dass die Entwicklung auf anderen
Gebieten angefangen hat das Interesse auf sich zu lenken. Eins von diesen Gebieten ist der
moderne Zweizüger, der in den dreißiger Jahren allgemein für tot erklärt wurde, weil
zu der Zeit alle Möglichkeiten als erschöpft angesehen wurden. Solche Todeserklärungen
werden ab und zu proklamiert, aber wie der alte Finn in der irländischen Sage wird der
Leichnam wieder lebendig und fängt an zu tanzen. Man hat übrigens in Deutschland (wo
sonst!) eine kleine Zeitschrift für Originalaufgaben mit nicht mehr als vier Figuren auf
dem Diagramm gegründet.
In den dreißiger Jahren begann eine totale Neuorientierung des modernen Zweizügers, der
Gegenstand einer ständig wachsenden Erforschung wurde und der heute die gleiche
Lebenskraft hat, wie vor dreißig Jahren. Es ist einfach so, dass die Spezialisten
Schwierigkeiten haben, sich mit dem, was geschieht auf dem Laufenden zu halten. Die
Variationen sind enorm ich wiederhole es noch einmal und das Feld ist noch
lange nicht erschöpft für den Komponisten des Schachproblems. Wenn ich von Variationen
spreche, meine ich natürlich nicht jede einzelne Komposition, die sich innerhalb des
Rahmens eines bestimmten Themas befindet. Nachdem eine Gattung oder ein Thema seine
Meister gesehen hat, geht die Entwicklung weiter. In den Nachwirkungen erscheint manchmal
ein Spätling, es sind aber die neuen Ideen auf die man wartet.
Die klassische Poesie wurde von der modernen abgelöst, die, kurz gesagt, mit einem
freieren Vers neue Nuancen aus der Sprache gewinnen will. Als das Märchenschach gleich
nach der Jahrhundertwende hervortrat, war es ein Versuch, den strengen Rahmen des
klassisch orthodoxen Problems zu sprengen. Das orthodoxe Problem (Matt in zwei Zügen,
Matt in drei Zügen usw.) wurde hierdurch nicht auskonkurriert, aber es hat sich teilweise
in anderen Linien entwickelt. Das Märchenschach war ein Versuch neue Wege zu finden, und
ein Versuch einer Vereinfachung. Fast der ganze klassische Ideenvorrat wiederholt sich
jetzt in einer anderen Beleuchtung. Seitdem das Märchenschach allgemein akzeptiert wurde,
hat sich die Situation völlig verändert.
Vor dreißig, vierzig Jahren wurde das Märchenschach nicht ganz ernst genommen, ganz
gleich was man leistete. Man hielt es jedenfalls nicht für würdig, neben ein regelrecht
orthodoxes Problem gestellt zu werden. Man kann sagen, dass man eine Stellung einnahm, die
an die des früheren Jazz in der Musik erinnert. Vor einigen Jahren noch war das
Märchenschach in russischen Zeitschriften sogar verboten, weil es nicht orthodox und
daher "dekadent" war. Wahrlich merkwürdig! Heute ist das Märchenschach in
Problemkreisen völlig respektiert und hat im deutschen Organ "feenschach" und
im niederländischem "probleemblad" seine maßgebenden Organe. Unter den Lesern
der gewöhnlichen Schachzeitschriften und der Zeitungsschachspalten gibt es aber immer
noch einen gewissen Widerstand, der zur Folge hat, dass Problemredakteure ziemlich
abweisend sein können, wenn es sich um diesen Modernismus der Problemkunst handelt.
Die Problemkunst unterläuft einer ständigen sukzessiven Umwandlung, aber die
Durchschlagskraft der neuen Ideen beruht auf dem Verhältnis zum Spiel selbst. Wir können
die Sache so ausdrücken: das Spiel bekommt in den Figuren, in den Regeln und dem Brett
seine Definition, die das natürliche Spannungsverhältnis zu dem Erschaffenen, dem
Schachproblem gibt. Wenn wir, um es so zu sagen, die Gene verändern, wird alles denkbar.
Jeder radikale Ausbruchsversuch ist deshalb sein eigener strenger Richter. Die Entwicklung
der Problemkunst wird durch eine Inflation von Impulsen geprägt, aber das was
revolutionierend war, waren nicht die großen Abweichungen vom Spielschach, sondern im
Gegenteil die Ideen, denen es mitten in der Verwandlung gelang, den organischen
Zusammenhang mit der Grundlage mit dem Schach zu behalten.
Hiermit sind wir auf das Verhältnis des Künstlers zu seiner Kunstart gekommen. Unser
Thema gleitet zur Seite und die Erörterung beginnt über die ästhetischen
Grundeinschätzungen.
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