Vladimir Nabokov

Ich erinnere mich an ein bestimmtes Problem, dessen Komposition ich monatelang versucht hatte. Es kam eine Nacht, als es mir endlich gelang, jenen besonderen Grundgedanken darzustellen. Die Aufgabe war zur Erbauung sehr fachkundiger Löser bestimmt. Es war nicht ausgeschlossen, dass arglosen Leuten die Pointe des Problems völlig entgehen würde, dass sie seine ziemlich einfache, "thetische" Lösung finden würden, ohne durch die angenehmen Qualen zu gehen, die für den Kenner bereitet waren. Dieser würde zunächst auf ein täuschendes Spielmuster hereinfallen, das auf einem modischen avantgardistischen Gedanken beruhte (den weißen König dem Schach aussetzen), welches der Problemkomponist unter größten Mühen als Falle eingeführt hatte (und das durch einen obskuren kleinen Zug eines unscheinbaren Bauern über den Haufen geworfen werden konnte).
Hat er diese "antithetische" Inferno durchschritten, so findet der nunmehr mit allen Wassern gewaschene Löser den einfachen Schlüsselzug wie jemand, der über Vancouver Eurasien und die Azoren von New York nach Albany fährt. Das angenehme Erlebnis des Umwegs (seltsame Landschaften, Gongs, Tiger, exotische Sitten, ein Hochzeitspaar, das das heilige Feuer einer irdenen Feuerschale auf einem Dreifuß dreimal umschreitet) belohnte ihn reichlich für das Elend der Täuschung, und wenn er darauf den einfachen Schlüsselzug fand, so wurde ihm eine Synthese tiefer künstlerischer Freude zuteil.
Ich erinnere mich, wie ich langsam aus einer Ohnmacht konzentrierter Schachgrübelei erwachte, und vor mir auf dem großen englischem Schachbrett aus hellgelbem und scharlachrotem Leder war endlich die makellose Stellung wie ein Sternbild ins Gleichgewicht gebracht. Sie funktionierte. Sie lebte. Meine Stauntonschachfiguren (ein zwanzig Jahre alter Satz, den mir der anglisierte Bruder meines Vaters, Konstantin, geschenkt hatte), herrlich massive Figuren aus gelbbraunen oder schwarzem Holz und teils über zehn, elf Zentimeter hoch, präsentierten ihre glänzenden Umrisse, als wären sie sich ihrer Rolle bewußt. Bei genauem Hinsehen mußte man allerdings leider feststellen, dass einige Figuren abgeplatzt waren (nachdem sie fünfzig oder sechzig Umzüge von einer Behausung in die andere mitgemacht hatten), doch oben auf dem Turm des Königs und auf der Stirn seines Springers war noch eine aufgemalte karmesinrote Krone erkennbar, die an das runde Zeichen auf der Stirn eines glücklichen Hindus erinnerte.
Ein kleiner Zeitbach im Vergleich zu ihrem zugefrorenen See auf dem Schachbrett, zeigte meine Uhr halb vier. Es war - Mitte Mai 1940. Nach einem Monat des Bettelns und Schimpfens war einen Tag zuvor der richtigen Ratte in der richtigen Dienststelle ein Emetikum in Form einer Bestechung verabfolgt worden und hatte endlich zu einem Ausreisevisum geführt, das wiederum die Voraussetzung für die Genehmigung war den Atlantik zu überqueren. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mit der Vollendung meines Schachproblems eine ganze Periode meines Lebens zu einem befriedigenden Abschluß gekommen war. Um mich her herrschte tiefe Stille, nur meine Erleichterung verursachte sozusagen einen leichten Wellengang. Im Nebenzimmer schliefst du und unser Sohn. Die Lampe auf meinem Tisch trug eine Haube aus blauem Zuckerhutpapier (eine erheiternde militärische Vorsichtsmaßnahme), und ihr Licht verlieh den Voluten der von Tabakrauch schweren Luft eine mondscheinhafte Färbung. Undurchsichtige Vorhänge trennten mich vom verdunkelten Paris. Die Schlagzeile einer Zeitung, die von dem Sitz eines Stuhls hinabhing, verkündete Hitlers Überfall auf die Niederlande.
Vor mir habe ich das Blatt Papier, auf das ich in jener Nacht in Paris das Diagramm des Problems zeichnete.

Vladimir Nabokov
Speak, Memory 1947








#2

Die falsche Fährte, der unwiderstehliche Versuch ist: 1.b8=S? und drei schöne Mattbilder als Antwort auf das Abzugsschach von Schwarz sind die Folge; doch Schwarz kann die ganze brillante Rechnung über den Haufen werfen, indem er Weiß nicht Schach bietet und statt dessen irgendwo anders auf dem Brett einen bescheidenen Wartezug ausführt. In der einen Ecke des Blattes mit dem Diagramm befindet sich ein Stempel, der auch andere Papiere und Bücher schmückt, die ich im Mai 1940 aus Frankreich mit nach Amerika nahm. Es ist ein kreisrunder Abdruck in der letzten Farbe des Spektrums - violet de bureau. In der Mitte zwei Ciceroversalien, R.F., natürlich eine Abkürzung für Republique Francaise. Andere Buchstaben in einem kleineren Schriftgrad, die kreisförmig darumlaufen, ergeben: Controle des Informations. Jedoch erst heute, viele Jahre später, kann die Information, die in meinen Schachsymbolen versteckt war und die jene Kontrolle durchgehen ließ, verraten werden - und erst heute wird sie verraten.

 

Soweit Vladimir Nabokov in seinem Buch Speak, Memory.
1970 veröffentlichte er einen Gedichtband  "Poems and Problems" mit russischem Originaltext und englischen Übersetzungen und Schachproblemen. Daraus das folgende Problem

Vladimir Nabokov
Poems and Problems 1970








#3

1. Dh7 Kb8 2. Txa3 Kc8 3. Ta8#
1. ... a2 2. Db1 Ka7 3. Txa2#
Dieses Problem fand Aufnahme in Miniature Chess Problems von Colin Russ.Er bemerkte dazu "The creator of Lolita shows that he can portray pur mates as well."
Am 2/4/1977 stirbt Vladimir Nabokov in Lausanne.

 

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