Eine kleine Geschichte des Schachproblems
2. Fortsetzung

Essay von Herbert Grasemann aus Problemjuwelen 1964

Schon in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte das Bestreben sich bemerkbar gemacht, den Wildwuchs des zufälligen Nebengeranks, das die Vertreter der alten deutschen Kompositionsweise stets gern zum Verbergen ihres ldeenspiels benutzten, entweder gänzlich wegzuschneiden oder geeignete Teile davon zu veredeln, indem man sie ebenfalls in reinen, ökonomischen Matts enden ließ und sie so in den Rang gleichwertiger Hauptvarianten erhob. Dabei wurde die Kraft der verwendeten Figuren möglichst restlos ausgewertet die Materialökonomie strengstens gewahrt Diese Richtung bildete sich bald zu einer eigenen Schule aus, nach dem Schwerpunkt ihrer Wirksamkeit "Böhmische Schule" genannt Als ihr Begründer gilt Antonin König, zu ihren Pionieren zählen Dr. Jan Dobrusky, Jiri Chocholaus und Josef Pospisil. Dessen Nr. IX

Nr. IX Josef
Pospisil

Humoristické listy 1887








#3

bietet praktisch alle reinen und ökonomischen Mattstellungen, die mit dem gewählten Figurenmaterial überhaupt möglich sind: 1. Ld8! (drohend 2. Kb7 3. Lb6#, 2.... d5 3. Le7#) Sc3 2. Dd4+ Kxd4 3. Lb6#, 1. ... axb5 2. Da7+ Kb4 3. La5#, 1.... Sd2 2 Dxa3+ Kxb5 3. La4#. Die erste, durch das hübsche Damenopfer hervorstechende Variante herauszulassen, würde einem böhmischen Autor nicht im Traum einfallen, obwohl es ihm hier wesentlich und in erster Linie auf die Beziehung zwischen den Schlußstellungen der zweiten und dritten Variante ankommt: auf die Wiederholung des gleichen Mattbildes an anderer Stelle des Brettes, die sogenannte Echowirkung.

Hierin offenbart sich etwas sehr bemerkenswertes. Das makellose Mattbild, als Ausdruck des Ökonomieprinzips bis dahin zumeist nur zur Ausschmückung und dazu benutzt Wichtiges von Unwichtigem abzuheben, erhält eine neue Funktion - nämlich die, als Teil eines ganzen Mattbilderkomplexes mitzuwirken an dem sinnlichen Eindruck einer "ornamentalen Konfiguration" (Vladimir Pachman). Nicht aber diese Ornamentik selber ist für den Böhmen das Entscheidende, sondern die unerwartete Art ihres Entstehens aus dem harmonischen Zusammenspiel der weißen und schwarzen Kräfte. In diesem Stil zu schaffen, möglichst noch unter Wahrung einer eigenen persönlichen Note, erfordert hohes technischen Können und ausgeprägtes Formgefühl. M. Havel, der 1958 verstorbene Meister und glänzendste Repräsentant der Böhmischen Schule, besaß beides in ungewöhnlichem Maße. Nr. X

Nr. X Miroslav Havel
Natal Mercury 1911
1. Preis








#3

1. Tg2 Kd5 2. De8 1. ... Kd7 2. Tg7+ 1. ... Kf5 2. Dc8+
gibt ein Beispiel seiner vollendeten Beherrschung des Stoffes. Eines freilich kommt bei Problemen dieses Typus gemeinhin zu kurz: das dynamische Element die Wirkung ungewöhnlicher schachlicher Kausalzusammenhänge, die "strategische Idee". Dr. Emil Palkoska war es, der bewies, daß dies nicht unbedingt so sein müsse, und der in Theorie und Praxis dafür eintrat einen profilierten strategischen Gedanken zur Grundlage auch der böhmischen Aufgabe zu machen - selbstverständlich unter Beachtung der von der Schule entwickelten strengen Prinzipien hinsichtlich der Ökonomie der Mattbilder und des Aufwandes an Figurenkraft Zeit und Raum. Nr. XI

Nr. XI Emil. Palkoska
Neue Leipziger
Zeitung1926
1. Preis








#4

1. Sf8 c6 2. Sd7 Lxd7 3. Ke2 4. g3#
1. ... d5 2. Se6+ Lxe6 3. Ke2 4. g3#
zeigt eine solche böhmische Behandlung eines strategischen Motivs; es ist die erzwungene Sperre von Läuferlinien durch Bauern.

Dr. Palkoska fand Zustimmung und Gefolgschaft, aber auch Ablehnung. Viele meinten, die Verbindung von strategischen und Mattbildeffekten erzeuge einen Bastard. Auf der einen Seite waren es Anhänger der klassischen böhmischen Richtung, die so urteilten, auf der anderen Verfechter des sogenannten neudeutschen ldeenproblems. Dessen Entwicklung begann kurz nach der Jahrhundertwende mit einem regelrechten Aufruhr gegen die im deutschsprachigen Kulturbereich bis dahin maßgebenden Anschauungen Bergers über "Das Schachproblem und dessen kunstgerechte Darstellung" (so der Titel seines 1884 herausgegebenen Buches). Ausgelöst wurde der bald heftig entbrennende Meinungsstreit durch Arthur Gehlerts Schrift "Über das Wesen des Schachproblems" und die berühmte Studie von Johannes Kohtz und Carl Kockelkorn über "Das Indische Problem" (beide 1903 erschienen).
Worum ging es? Einige klarsichtige Köpfe hatten erkannt daß Bergers "Kunstgesetze" keineswegs aus dem Wesen der Kunst oder auch nur des Schachproblems hergeleitet, sondern lediglich als die Regeln einer individuellen Kompositionstechnik aufzufassen waren und daß diese Regeln - geltend gemacht mit einem ungerechtfertigten Ausschließlichkeitsanspruch - das freie Schaffen unnötig einengten und die Evolution des Schachproblems fühlbar behinderten. Man besann sich auf die großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, auf Lovedays "kritischen Zug" (Nr. XlI)

Nr. XlI Henry Loveday
The Chess
Player's Chronicle 1845








#3

1. Lc1 b4 2. Td2  Kf4 3. Td4# (Der Ur-Inder)
(Die ursprüngliche Fassung von Loveday hatte einen zusätzlichen schwarzen Bauern auf b6 und war vierzügig und war nebenlösig.)
die Schnittpunktkombinationen Nowotnys und Plachuttas (Nr. XIII und XlV),

XIII Anton Nowotny
Leipziger Illustrierte
Zeitung 1854








#3

1. Tf5 Tf8 und jetzt die Erstdarstellung der gleichzeitigen Linienverstellung zweier schwarzer Ungleichschrittler durch Weiß 2. Lf6 =Nowotny-Verstellung

XlV Josef Plachutta
Leipziger Illustrierte
Zeitung 1858








#4

1. Df3 Sxc5. und die Erstdarstellung der gleichzeitigen Linienverstellung zweier schwarzer Gleichschrittler durch Weiß: 2. Tg7 = Plachutta-Verstellung 2. ... Thxg7 3. Dg3+ Txg3 4. Lc7# 2. ...Tgxg7 3. Lc7+ Txc7 4. Dg3#

Frank Healeys kühnen Bahnungsgedanken (Nr. XV),

XV Frank Healey
Bristol - Turnier 1861
1. Preis








#3

1. Th1 Le8 2. Db1 Lb5 3. Dg1#

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