Das Schachproblem als Kunstwerk

Das Schachproblem als Kunstwerk von Walter Horwitz

Titelbild In seinem 1957 erschienenen kleinen Büchlein Das Schachproblem als Kunstwerk versucht der österreichische Autor Walter Horwitz (5/12/1906 - 9/4/1966) den Nachweis zu führen, dass das Schachproblem als Kunstwerk anzusprechen sei. Walter Horwitz hat sich gerne mit einem zusätzlichen h im Vornamen geschrieben als Zeichen seiner Verehrung für Walther von   Holzhausen?!

Das Schachproblem als Kunstwerk – klingt das nicht fast ein wenig nach Vermessenheit, vielleicht sogar nach Herausforderung? Es handelt sich doch um ein "Spiel"! Und ist man schon bereit, auch einem Spiel "seine" Problematik zuzuerkennen, darf man es deshalb gleich zum "Kunstwerk" stempeln? Selbst wenn es sich um das königliche Schach handelt? Ich glaube, der Titel bedarf einer Rechtfertigung.

Für die meisten Menschen verbindet sich der Begriff des Spieles mit der Lebenswelt des Kindes. Man spricht vom Kinderspiel, von kindlicher oder sogar auch kindischer Spielerei. Man ist also gesonnen, das Spiel nicht ernst zu nehmen. "Spiel" und "Ernst" sind den meisten Menschen kontradiktorische Gegensätze. Das Kind jedoch nimmt sein Spiel ernst, todernst sogar. In seinem Spiel begegnet es den großen entscheidenden Problemen seines Daseins, freilich seiner Altersstufe und seinem Fassungsvermögen angepasst. Im Spiele entäußert es sich seiner Lebensnöte, meistert das, was zunächst als unfassbares und vielfach beängstigendes Erlebnis auf die Kinderpsyche einstürmt. Im Spiel wird das Kind frei. Kraft der Entfaltung seiner Phantasie wächst und reift es heran zur einsichtigen Beherrschung der daseinsgestaltenden Dimensionen von Raum, Zeit und Kraft (und deren Wechselwirkung). Diese befreiende Wirkung der Phantasie von Lebensnot und Angst, die von Nachahmung ausgehend, die rationale Undurchschaubarkeit der Zusammenhänge überwindet und das Kind zum Meister der Situation werden lässt, wo es kaum noch begreift, ist es, die das Kind nach dem einfachen, dem primitiven Spielzeug greifen lässt. Das "schönste" raffiniertest gebaute Spielzeug verwehrt in seiner technischen Vollkommenheit die Betätigung der Phantasie und bleibt daher liegen, weil es nicht befriedigt.

Doch letztlich spielen ja nicht nur die Kinder. Auch wir Erwachsenen geben uns dem Spiel oft mit einer "vernünftig" kaum zu rechtfertigenden Leidenschaft, ja Besessenheit hin, die emotionell gar nicht so sehr verschieden ist von jener schöpferischen Leidenschaftlichkeit und Besessenheit, wie sie auch den Künstler auszeichnet. Beide können bis zur Selbstzerstörung führen. Wo ist die Wurzel dafür zu suchen?

Werfen wir zunächst einen Blick auf die niederste Stufe der "Erwachsenenspiele", die reinen "Glücksspiele". Hier sucht der Spieler die "Geworfenheit der Lose", das blind ihm zugefallene Schicksal zu meistern, es zu überwinden, es zu "seinem Glück" zu wenden. Es tritt damit symbolhaft für die Nöte seines Lebenskampfes ein, dem er wohl manchmal zu unterliegen droht; der Gewinn im Spiel wird ihm gleichsam zum Orakel, zur Verheißung, dass er vor dem großen Schicksal ebenso bestehen wird, wie vor dem kleinen. Der Schritt vom Spiel zur (religiösen) Opferhandlung, die oft genug orakelnde Bedeutung hat, der Schritt vom reinen Glücksspiel zum sakralen Kultspiel (etwa dem rituellen Federballspiel der Azteken) ist im Grunde nur ein kleiner. Für den Spieler wird Gewinn zum Sieg, Verlust zur Niederlage, beide Triumph oder Verzweiflung weckend, als gälte es das Leben selbst. Die Parallele hierfür finden wir in den alten und ältesten Rätseln und (Orakelsprüchen) aller Völker. im Märchen, nicht nur von der chinesischen Königstochter (Turandot), sondern wie schon in dem griechischen von der Sphinx, die uns zum Inbegriff des Rätsels geworden ist, so in vielen anderen von schönen und stolzen Prinzessinnen steht auf den Misserfolg im Erraten unweigerlich der Tod. Ein merkwürdiger, ein erschütternder Gegensatz: Lösung zugleich Erlösung, Erfüllung, Versagen aber Untergang, Vernichtung. Der Sieger im sakralen Spiel wird zum von der göttlichen Gnade gesegneten Priester und Glücksbringer einer ganzen sozialen Gemeinschaft. Persönliche Einsatzbereitschaft und Geschick (der Mut zum Risiko!), das richtige Erfassen der Kräfte und ihr Zusammenspiel in Raum und Zeit ermöglichen es dem Spieler (wie oben dem Kinde), die dem Zauberspiegel des Spieles eingefangene Lebensproblematik zu überwinden; Phantasie und Intellekt sind die Waffen in diesem "Kampf". Fast alle Erwachsenenspiele sind Kampfspiele, sei es mit einem imaginären, bzw. anonymen Gegner (in den klassischen Glücksspielen etwa), sei es mit einem realen, bzw. persönlichen. Auch hier – wie beim Kind – das Gefühl der "Befreiung" von allem, was uns im Alltag ängstigt und bedrängt. Vielleicht (höchstwahrscheinlich) lässt sich nur so die Massenpsychose erklären, die Kampfspiele wie Fußball, Rugby oder Stierkämpfe hervorrufen, denen Zehntausende zwischen frenetischem Jubel und heulender Verzweiflung beiwohnen und dennoch oder gerade deshalb aus ihnen echte "Entspannung" (d.h. Erlösung aus Unlustkomplexen, die aus den Belastungen der Alltagsnot resultieren) schöpfen.

Schach ist nun in seiner spielhaften Gestalt, die ich noch keineswegs dem Bereich des Künstlerischen zuzählen und vom "Schachproblem" unbedingt unterschieden wissen möchte, zweifellos ein ebensolches "Kampfspiel". Es vermochte das "Kraftfeld" der Wechselwirkung von Raum, Zeit und Material (Kraft) auf den Minimalraum von 64 Feldern eines Spielbrettes zu übertragen, ohne auch nur eine der lebensgestaltenden Dimensionen schmälern oder gar aufgeben zu müssen. Indem man noch überdies die Gleichwertigkeit und Gleichförmigkeit des Kraftwertes der einzelnen Steine, wie sie eben dem altasiatischen Damespiel, der Urform des Schachs, innewohnte, zugunsten einer sechsfach abgestuften Wertigkeit veränderte, hat man eine weitere Annäherung an die Realität vollzogen.

Übrigens beruht die Meinung, das Schachspiel bis in die Antike zurückverfolgen zu können, wie sie eine Reihe von Historikern (von Mommsen bis zu den Modernen) vertreten, auf einen Irrtum, bzw. einer Verwechslung. Tatsächlich handelt es sich bei allen früheren Quellen (mit Ausnahme des japanischen Go-Spieles) genannten Spielen immer nur um das älteste Spiel der Welt, das Damespiel in seiner Urform, das heute noch in Kleinasien nach denselben Regeln wie zur Pharaonenzeit gespielt wird. Die alten Spielsteine hatten Kegelform (ähnlich wie in dem in Griechenland daraus entstandenen Kinderspiel "Halma").

Diese hohen (obschon gleichförmigen) Steine wurden stets für Schachfiguren gehalten. Das Damespiel der Griechen und das "Ludus latrunculorum" (Spiel der kleinen Räuber) der alten Römer ist identisch mit dem altägyptischen Damespiel. (Bericht Herodots und Ovids und die Ausgrabungen in Pompeji). Bei allen findet sich (zum leichteren Nachweis für uns) das Hieroglyphenzeichen der alten Ägypter für das Damespiel, nämlich drei kleine Entlein und ein T. Der "Figurencharakter" der Spielsteine wurde somit zur Ursache des aufgezeigten Missverständnisses. Ich habe übrigens schon 1928 in einem einstündigen Vortrag im österreichischen Rundfunk darüber gesprochen. Das Beweismaterial im Besitze des Britischen Museums in London ist genügend. Die heutige Scheibenform des Damespiels stammt aus Spanien, wo Scheibe auf altspanisch "dama" heißt. Daher der (irrtümliche) Name "Damespiel".

Als man an der einfachen Urform des Damespieles mit seinen verhältnismäßig geringfügigen Variationsmöglichkeiten nicht mehr sein Genügen fand, wurde im persisch-indischen Raum der entscheidende Schritt zum Schachspiel vollzogen, indem man die Wertigkeit der Steine in symbolischer Entsprechung der Wirkungsweise der Truppengattungen der persisch-indischen Heere veränderte. (König – Schah , daher auch der Name des Spiels "Schach"; Königin (Dame) – Wesir, also ursprünglich der Heerführer, der erst in der französischen galanten Zeit in die weibliche Figur der Dame gewandelt wurde; Turm – Elefant oder Streitwagen, dem Tank der abendländischen bzw. modernen Heere entsprechend; Läufer – Boot , daher wörtlich "Alfil – Boot " im Arabischen, dessen schräge Gangart (ursprünglich bloß drei Felder weit) die schräge Übersetzung der stromschnellenreichen Flüsse Persiens und Indiens wiedergibt; Ross – Kavallerie, die ja strategisch immer in die Flanke angesetzt wurde und daher zu der eigenartigen Gangart anregte; und letztlich die Bauern – Infanterie, als die zahlenmäßig stärkste, aber an Durchschlagskraft d.h. Kampfwert schwächste Formation des Heeres.

Das Schachspiel ist also, wie man sieht die härteste Form des Lebenskampfes, den Krieg, der seit Urzeiten zu den apokalyptischen Bedingungen der individuellen und kollektiven Existenz des Menschen zählte, symbolisch wiedergibt. Der Sieger in diesem Spiel, ja selbst der "in Ehren bestehende" Verlierer, findet sich in dem Spielgeschehen, das alle Kraft der Phantasie, Vorstellungskraft und Geisteskraft den Partnern abverlangt, in einem die Gesamtpersönlichkeit erfassenden Maß bestätigt, wie sonst in keinem anderen. Dennoch haftet selbst diesem Spiel noch immer das Kainsmal des "Zufälligen" an, trotz aller Vorausberechnung, genau so, wie man ja im großen Ur- und Vorbild vom "Kriegsglück" spricht. Es gebricht dem Spiel am Charakter des "Notwendigen", des Schicksalhaft-Unabwendbaren, da ja der Gesamtablauf in der Wechselwirkung von Zug und Gegenzug zweier einander wesensfremder Partner besteht, wobei sich Wille und Planung des einen Zug um Zug fast an der des andern brechen. Noch fehlt im System dieses Spiel-Kosmos das göttlich-schöpferische Prinzip der "Ordnung", das - dem Schicksal der antiken Tragödie vergleichbar - jede Einzelheit des Ablaufes absolut und funktionell eindeutig und unverrückbar festlegt. Es ist dies jenes Element, das im Kunstwerk die Sinndeutung eines un- und außermenschlichen Seinszusammenhanges vollzieht, der der "vernünftigen" Einsicht unbegreiflich bleibt. Das Kunstwerk "befreit" nämlich nicht nur aus der Not der Lebensangst, sondern es löst sie einfach auf, indem selbst im grausamsten und unbegreiflichsten Geschehen nichts willkürlich, veränderlich, zufällig, beiläufig bleibt, vielmehr alles notwendig geordnet erscheint und damit Sinn erhält (auch wenn dieser - gleichsam als das "Ding an sich" -selbst unbegreiflich und unfasslich bleibt). Die Einzelerscheinung, selbst das unscheinbarste Detail, wird damit zur sinnlich und begrifflichen Manifestation jenes, "jenseitigen" Sinnes. Dieser Prozess der Entschlackung von allem Zufälligen, die Schau, bzw. Sichtbarmachung des Notwendigen, diese Harmonie der inneren Ordnung ist es, was das "Kunstwerk" und seine "Schönheit" ausmacht. Das ist nun genau der Schritt, den der Problemkomponist von der Realität des Spielgeschehens der Partie fort zum "Kunstwerk" des Schachproblems macht. Er "ordnet" selbst als Schöpfer seinen Spiel-kosmos, so wie ein Gott oder ein allmächtiges Schicksal die Geschicke ihrer Geschöpfe jeweils ordnen mögen, dass es kein Entrinnen aus den vorgezeichneten Bahnen des Geschehnisablaufes gibt. Bleibt auch nur eine Spur der Zweideutigkeit, d.h. die Möglichkeit von Nebenlösungen oder eine Unlösbarkeit, offen, so hat der Problemkomponist versagt. Er hat -wie der Künstler - zwischen Abstraktion (der Reduktion des Ablaufes auf das Notwendige) und Einfühlung (in die Wirksamkeit der Kräfte in den Dimensionen von Raum und Zeit) eine Ausgangssituation zu schaffen, aus der es nur ein Entrinnen gibt: die von ihm vorausgesehene und vorausbestimmte Lösung. Das Schachproblem ist als etwas grundsätzlich anderes als die Schachpartie, mit der sie nur die Symbolik des gleichartigen Spielfeldes und die gleichgestimmte Wirkungsweise der Figuren verbindet. Daraus folgt aber auch zwingend, dass die Forderung mancher "Theoretiker", das Problem müsse als Endphase einer tatsächlichen Schachpartie d e n k b a r, d.h. aus der Partiestellung ableitbar sein und einer Retroanalyse standhalten können, grundsätzlich in die Irre geht. Wenn das Schachproblem auch aus dem Endspiel des Partieschachs genetisch hervorgegangen ist, so haftet eben diesem "Hervorgegangenen" bzw. der Forderung nach einem solchen Charakteristikum noch entschieden die Schlacke jenes "Zufälligen" an, die es beim Schritt zum "Kunstwerk" abstrahierend auszuscheiden gilt!! Dem sich an die Forderung nach partiegemäßer "Legalität" klammernden Problemkomponisten gebricht es letztlich an Abstraktionsverrriögen er vermag eben immer noch bloß "konkret", d.h. aus der Partie heraus zu denken. Wollte man aber diesen Standpunkt zum Maß erheben, so hieße das nichts anderes, als dass ein Mathematiker heute sich weigern wollte, zur Lösung eines sonst unlösbaren Problems sich der "imaginären Zahl i" oder der Grenzwertrechnung zu bedienen. Hier wie dort hält man genau an jenem Punkt, an dem man sich entscheiden muss, ob man sich der Rechenkunst bloß zu einer Art höherer Marktrechnung oder zur Lösung echter Probleme bedienen will. Der Problemkomponist kann in seinem Reiche, dem Spielbrett, mit seinen Geschöpfen, den Steinen, souverän verfahren: wo immer er seine Steine hinsetzt, dort stehen sie; alle anderen Überlegungen sind zweitrangig, wenn nicht irrelevant. Als Beispiel mag hierfür etwa die "partiewidrige" Stellung eines Läufers gelten, der nur deshalb "illegal" gesetzt wurde, um eine Anzahl von Nebenlösungen auszuschließen, was sonst - wenn überhaupt - nur durch eine enormen Mehraufwand an Steinen möglich wäre. Sich daran stoßen hieße, eine ausgesprochene Nebenfigur zum Angelpunkt der ganzen Komposition zu stempeln und noch obendrein gegen das Grundgesetz der Beschränkung auf das Notwendige verstoßen. Ja, noch viel mehr: wer solches fordert, führt sich selbst und sein Bemühen als Problemkomponist in grotesker Weise ad absurdum, indem er eine absolut unlogische, wenn nicht idiotische Partie voraussetzt, um sie urplötzlich in einem "logischen" (!!) Problem enden zu lassen! Ebenso wird man von der unbedingten Forderung nach Beschränkung der Problemkunst auf die Verwendung weniger Figuren abgehen müssen. Maßgeblich für die erlaubte Anzahl der einzusetzenden Figuren kann immer nur die Aufgabe selbst sein, die freilich in jedem Falle mit einem Minimum von Steinen, eben in der Beschränkung auf die unbedingt notwendige Anzahl, dargestellt werden soll. Jeder Schwulst ist hässlich, da es ihm an jener Harmonie der inneren gesetzmäßigen Ordnung mangelt, die gerade das Kunstwerk auszeichnet, oder sie zumindest schwer beeinträchtigt. Eine reiche, tiefe, vielfältige Beziehungen ausdeutende Idee hingegen wird immer eines entsprechenden angemessenen Aufwandes bedürfen, um überhaupt ausgedrückt werden zu können. Dieser Aufwand an Material ist berechtigt. Sollte man vielleicht auf solch eine schwere herrliche Aufgabe verzichten, nur weil der eine oder andere Anfänger oder zurückgebliebene Fortgeschrittene vor der Schwierigkeit ihrer Komposition, Bezugspreise ihrer Lösung, zurückschrecken könnte?

Machen wir uns hier die angedeutete Standpunkte zu eigen, so wird das Schachproblem tatsächlich zum Kunstwerk, in dem sich die unbegreifliche Gesetzlichkeit des Alls - schöpferisch gestaltet -im spröden und doch so wundersam wandelbaren Material des Schachbrettes und seiner Figuren spiegelt.

Ob Komponist, ob Löser, wer das Spiel der Elemente in Raum und Zeit gedanklich meistert, der hat "vom großen Geist" einen Hauch verspürt.

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