Über Kunstwerke und Kunststücke

von Bernd Gräfrath (Essen)
Nachdruck aus feenschach Heft 145 Januar-Februar 2002 Seite 338-339

C.J. Feather lehnt die "Task-Mentalität" ab, "denn sie ersetzt Qualität durch Quantität".1 Häufungsaufgaben sind für ihn nur dann akzeptabel, wenn sie "ohne allzuviele Kompromisse" erkauft werden. Aber mit was soll da ein Kompromiß geschlossen werden? Feathers Beispiele machen deutlich, daß er an einen Qualitätsstandard denkt, der für Kunstwerke angemessen ist: Wer die Orientierung an Tasks betont, "teilt wohl die Mentalität jener Menschen, die sich in Beethovens 'Pathétique'-Sonate eine Posaunenbegleitung wünschen. Kein Zweifel, Beethoven hätte so etwas schreiben können. Aber der wahre Künstler kennt die Bedeutung des Wortes 'Zurückhaltung'." Entsprechend präsentiert er ein seiner Meinung nach "perfektes Hilfsmatt" mit dem Kommentar: "ein Beispiel für die seltene Gabe, einfach zu sein. Der Begriff 'mozartisch' kommt mir in den Sinn."2 Das theoretische Fundament dieser Äußerungen bilden Michael Liptons Gedanken zur kulturellen Bedeutung der Schachproblemkomposition, auf die Feather auch explizit Bezug nimmt3 und die im Epilog des Gemeinschaftswerks Chess Problems zu finden sind.4 Dort vertritt Lipton die These, daß Schachprobleme zu den kleinen Künsten gehören, die die breite Masse empfänglich machen können für die große Kunst eines Shakespeare, Beethoven oder Leonardo da Vinci; und er ist sicher, daß diejenigen, die sowohl die Werke des späten Beethoven als auch diejenigen Elvis Presleys kennengelernt haben, genau wissen, daß Beethoven viel besser ist.
Damit erhält die Diskussion um die Orientierung an Tasks und Rekordleistungen einen größeren Zusammenhang und verdeutlicht eine allgemeinere Kontroverse über eine angemessene Einschätzung der Beschäftigung mit Schachproblemen - oder, allgemeiner, über die mögliche Rechtfertigung von Betätigungen, deren direkter Nutzen vielleicht in Zweifel gezogen werden kann. Es ist aber zu befürchten, daß Liptons Ansatz zur Rechtfertigung der Problemkomposition gleichzeitig zu niedrig bleibt und zu hoch greift. Es sollte nicht der Eindruck erweckt werden, daß Schachprobleme nur als Ersatz für oder als Hinführung zu eigentlicher Kunst ihren Wert erhalten - wobei noch fraglich ist, ob dieser Anspruch überhaupt erfüllt werden kann. Stattdessen sollte besser kritisch zurückgefragt werden, weshalb ein Maßstab, der an traditionellen Kunstwerken orientiert ist, überhaupt im Bereich des Schachproblems Anwendung finden soll. Es könnte sich zum Beispiel herausstellen, daß ein solcher Maßstab dem spezifischen Anwendungsgebiet angepaßt werden muß; oder daß neben einem ästhetischen Maßstab auch andere herangezogen werden müssen, die womöglich angemessener sind und den ästhetischen Maßstab entweder ergänzen oder sogar ersetzen. Vor der Bestimmung eines angemessenen Maßstabs muß zunächst einmal geklärt werden, was nach dem ästhetischen Maßstab denn überhaupt als wertvoll gelten soll. Das ist schwer genug - insbesondere, weil allzu oft die Frage "Was ist Kunst?" in unklarer Weise mit der Frage "Was ist gute Kunst?" vermengt wird.5 A. Kraemer und E. Zepler versuchen immerhin, hier einiges auf den Punkt zu bringen:6 "Wir wissen wohl, daß es Problemtheoretiker gibt, die die Schönheit im Schachproblem als etwas weniger Wichtiges ansehen, als etwas Vergängliches, dem Wechsel der Zeit Unterworfenes. Sie stellen andere Momente als Maßstab der Bewertung in den Vordergrund. Für sie ist eine Rekordleistung, wie etwa der neunfache Schlagfall auf einem Felde - um einen beliebigen Vorwurf herauszugreifen - wichtiger, weil eine Rekordleistung etwas Absolutes, Unantastbares ist. Wir empfinden anders. Wir verkennen gewiß nicht das theoretische Interesse, das einer solchen Leistung gebührt, aber uns ist ein Problem, das weniger Schlagfälle aufweist, dafür aber schön, elegant und überraschend ist, unendlich viel lieber als jenes Rekordproblem, falls es schwülstig, unbeholfen und häßlich sein sollte." Erkannt werden soll das Schöne durch eine besondere Art von Empfindung, die sowohl "ästhetischen Genuß" als auch "seelischen Kontakt" herbeiführen soll.
So klar läßt sich Grenze zwischen ästhetischen Problemen und Tasks aber nicht ziehen. Man kann hier zwischen Thema-Tasks und Maximum-Tasks unterscheiden.7 Zu den Thema-Tasks können dabei viele Ziele gerechnet werden, die auch von der Strategischen Schule als wertvoll angesehen werden, etwa Allumwandlung, Pickaninny, Excelsiorproblem. Ebenso ist der ästhetische Genuß nicht für eine Seite der streitenden Parteien reserviert: So bezeichnet Alexandr A. Kisljak eine neue Rekordleistung von Harry Goldsteen emphatisch als "a gift from God!"8 Hinzu kommt außerdem, daß selbst nach Kraemer und Zepler auch bei einer Orientierung an ästhetischer Gelungenheit immer noch ein Auswahlproblem besteht: "Sofern ein Problem geschaffen werden soll, das durch die Schönheit seiner Mattbilder wirkt, so mache man sich den Maßstab der Böhmischen Schule zu eigen. [...] Will man ein strategisches Problem schaffen, so strebe man nach Tiefe, nach Originalität, aber ebenso nach Schönheit der Konstruktion." Die Kontroverse spitzt sich daher auf die Frage zu, ob Maximum-Tasks (oder genauer: Extrem-Tasks, zu denen auch Minimum-Tasks gehören), in eine grundlegend andere Kategorie gehören als die schönen und eleganten Probleme, die Kraemer und Zepler so am Herzen liegen. Kurz gesagt, lautet die Antwort: Auch hier haben wir es letztlich wieder mit einem Abwägungsproblem zu tun, in dem rivalisierende Schulen unterschiedliche Gewichtungen vornehmen, was im Extremfall so weit gehen kann, daß ein bestimmtes Maximum unter Mißachtung aller anderen Erwägungen angestrebt wird. John Rice zeigt sich dabei bezüglich ziemlich einseitiger Orientierungen durchaus aufgeschlossen, wenn er über ein Problem schreibt: "As often happens with extreme tasks, the composer has justifiably ignored one of the desirable elements in the principle of economy."9 Dabei setzt Rice (ebenso wie Kraemer und Zepler) anscheinend ein Verständnis des Ökonomieprinzips voraus, das dieses in erster Linie im Sinne einer Sparsamkeitsforderung auslegt. Wenn man aber bedenkt, daß das Ökonomieprinzip wohlverstanden nur ein optimales Kosten/Nutzen-Verhältnis fordert, ist die Gegenüberstellung von Tasks und Ökonomie künstlich und sogar irreführend. Auch diejenigen Komponisten, die Rekordleistungen anstreben, wollen mit möglichst einfachen Mittel möglichst große Wirkungen erzielen; nur wählen sie sich zunächst große, wenn auch einseitige Ziele und nehmen dann die zu ihrer Erreichung nötigen Mittel in Kauf, während andere zunächst ein sparsames Budget festlegen und dann sehen, wie weit sie damit kommen. In beiden Fällen beruht die eventuell erreichte Qualität aber auf bestimmten quantitativen Verhältnissen, und Kompromisse sind immer nötig. Die einen mögen den anderen vorhalten, daß sie eher Kunststücke als Kunstwerke anstreben, aber das ist keine durchschlagende Kritik. Die Grenze zwischen beiden Kategorien ist fließend, und die Früchte des gesamten Spektrums können von bleibendem Wert sein. Wenn man von der theoretischen Debatte zur praktischen Würdigung konkreter Probleme übergeht, fällt die Versöhnung vielleicht sogar noch leichter. So enthält die von Kraemer und Zepler zusammengestellte Sammlung Problemkunst im 20. Jahrhundert zwar nur ein einziges Problem von Samuel Loyd, nämlich sein "Steinitz-Gambit"-Problem

Samuel Loyd
Checkmate Turnier 1903








#3

(1.Ke2!), aber die beiden kommentieren: "Es ist eins unserer Lieblinge, denn nirgends ist die Schachgefahr des weißen Königs mit solcher Virtuosität behandelt. [...] Dies ist kein strategisches Problem, aber ein Genieblitz."10
Ein Vorbild an Liberalität ist in dieser Kontroverse T.R. Dawson, der auf der einen Seite den Wert von Rekordleistungen hervorhebt und ihnen sogar ein ganzes Buch widmet, auf der anderen Seite aber künstliche Beschränkungen durch irgendeine selbsternannte Orthodoxie zurückweist. So heißt es in Ultimate Themes: "In this book, I dismiss the artistic case as a tissue of largely personal criticisms based on the ever varying beliefs of conflicting 'schools.' I go much further than that, indeed, and see in chess problem maxima and minima the only results of chess problem work of any essential reality."11 Aber in Caissa's Fairy Tales sagt die Figur, die als Sprachrohr Dawsons fungiert: "Any problem which interests, pleases, or amuses justifies itself apart from all the red-tape conventions - used mostly in the great problem tourney lottery."12 Und damit haben wir schlußendlich auch eine hinreichende Rechtfertigung für die Beschäftigung mit Schachproblemen gefunden: Wenn sie interessant sind, gefallen oder amüsieren, kann das als Apologie genügen.

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1. C.J. Feather, Black to Play / Schwarz am Zug (Wien: Friedrich Chlubna, o.J. [1994]), S. 123.
2. Ebd., S. 97.
3. Ebd., S. 37.
4. Michael Lipton, R.C.O. Matthews u. John M. Rice, Chess Problems: Introduction to an Art (London: Faber & Faber, 1963), S. 274-280.
5. Vgl. dazu Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993; urspr. englisch 1978), S. 86 ff.
6. A. Kraemer u. E. Zepler, Im Banne des Schachproblems: Ausgewählte Schachkompositionen (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 3. Auflage 1982), S. 7-10
("Einführung" von 1951).
7. H. Weenink, The Chess Problem (Stroud: The Chess Amateur, 1926), S. 58.
8. Zitiert nach: diagrammes, Spezialnummer 15 (Juli-September 1994), S. 7.
9. John Rice, Chess Wizardry: The New ABC of Chess Problems (London: Batsford, 1996), S. 238.
10. A. Kraemer u. E. Zepler, Problemkunst im 20. Jahrhundert (Berlin: Walter de Gruyter, 1957), S. 76.
11. T.R. Dawson, "Ultimate Themes" (1938), in: ders., Five Classics of Fairy Chess, hrsg. v. A.S.M. Dickins (New York: Dover Publ., 1973), S. 81-109, hier: S. 83.
12. T.R. Dawson, "Caissas's Fairy Tales" (1947), in: ders., Five Classics of Fairy Chess, S. 111-145, hier: S. 122.


Der Autor ist Privatdozent und Akademischer Oberrat für Philosophie an der Universität Essen. Zuletzt erschien sein Buch Es fällt nicht leicht, ein Gott zu sein: Ethik für Weltenschöpfer von Leibniz bis Lem (München: C.H. Beck, 1998).

Das Buch Ketzer, Dilettanten und Genies: Grenzgänger der Philosophie (Hamburg: Junius Verlag, 1993) von  Bernd Gräfrath, enthält ein ziemlich langes Kapitel über Emanuel Laskers Philosophie und Schachtheorie.

Vielen Dank an Bernd Gräfrath und bernd ellinghoven für die Erlaubnis den Aufsatz auf meiner Homepage nachzudrucken.
Die Zeitschrift für Märchenschach feenschach kann bei dem Herausgeber bernd ellinghoven bestellt werden

 

 

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