Legalität und Legitimität im Schachproblemvon Bernd Gräfrath (Essen) H. Weenink weist darauf hin, daß die Forderung nach der Legalität der Problemstellung
aus der Mansubentradition stammt.1 Und obwohl wir uns in vielem von dieser
Tradition gelöst haben, wird doch allgemein (auch von Weenink) deren
Legalitätsverständnis (im Sinne der Ableitbarkeit aus der üblichen Anfangsstellung)
vorausgesetzt und eingefordert. Comins Mansfield problematisiert dies, weil nur die
wenigsten Problemstellungen bei Voraussetzung vernünftigen Spiels in einer Partie nach
Regeln des "Ortho-Schach"2 erreicht werden könnten.3
Dabei zeigt er durchaus eine gewisse kritische Distanz zur Tradition, auch wenn er sie
letztlich zumindest als Orientierungshilfe empfiehlt. Wenn Mansfield schreibt, eine
Verletzung der konventionellen Regel sei "not considered good form", könnte man
dies vielleicht noch als britisches Understatement strikter Ablehnung interpretieren.
Schon seine Rede von der abzulehnenden "Überbetonung" der Bedeutung einer
Ableitbarkeit aus einer imaginären Partie macht aber deutlich, daß er dazu neigt, die
Kontroverse als ein Abwägungsproblem zu betrachten und damit einer befriedigenden
Lösung zuzuführen. Auch wenn die Regelverletzung zu den Kosten gerechnet wird,
kann es doch einen kompensierenden Nutzen geben, der das Problem legitimiert. Man
könnte sogar die Position vertreten, daß schon die bloße Abweichung von der
Partiewahrscheinlichkeit einer besonderen Rechtfertigung bedarf.4 Nur wird
diese im Regelfall bei Schachproblemen leicht zu erbringen sein. 1. "obtrusive force". 2. "promoted force". 3. "illegal position". Typ 1 wird nach Rice zwar von einigen Puristen abgelehnt, ist aber unter Umständen akzeptabel. Typ 2 ist nach Rice in orthodoxen Problemen (wozu er direktes Spiel, Selbstmatt und Hilfsmatt rechnet) normalerweise nicht erlaubt. Bei Typ 3 gibt es nach Rice dagegen kein Abwägen: Solche Positionen sind "definitely out!" Aber muß das unter allen Umständen so sein? Kann es nicht auch für solche Positionen eine Rechtfertigung geben? Selbst wenn man die strenge Illegalität im Sinne von Rice diagnostizieren muß und selbst wenn man bereit ist, das als Kosten zu rechnen, könnte es nicht selbst dann einen ausgleichenden Nutzen geben? Rice hat selber in einem früheren Werk darauf hingewiesen, daß große Komponisten mit ihren Meisterwerken Konventionen durchbrechen;7 und so wird man etwa dem genialen Loyd nicht vorwerfen, daß in der Nr. 687 der Pickard-Sammlung einige weiße Bauern auf Feldern stehen, die sie nie legal in einer normalen Schachpartie erreichen konnten.
Selbst der orthodoxe Speckmann präsentiert in einer seiner Sammlungen ein Problem W. v. Holzhausens, bei dem es in der Problemstellung heißt, daß Weiß anzieht, obwohl Schwarz keinen legalen letzten Zug hat.8
Speckmann weist sogar darauf hin, daß die Stellung durch die
Hinzufügung eines ansonsten überflüssigen Bauernpaares im üblichen Sinne
"legalisiert" werden könnte; aber mit bemerkenswerter Unbefangenheit läßt er
es offen, ob das Kosten/Nutzen-Verhältnis dadurch verbessert würde. Ein Gebiet, dem
lange keine Aufnahme in den Bereich des orthodoxen Problemschaffens gewährt wurde,
erscheint nun im Rückblick als ein zentrales Paradigma für ein puristisches
Legalitätsverständnis, weil es so scheint, daß in ihm immer das strenge
Legalitätskriterium von Rice erfüllt sein muß, damit das Problem überhaupt sinnvoll
ist: nämlich das Gebiet der retrograden Analyse. Aber auch hier zeigt sich, daß die
Unorthodoxie Neuland gewinnen kann, indem sie ehemals verbotene Zonen für sich fruchtbar
macht. In diesem Zusammenhang muß auf vier Problemtypen eingegangen werden, deren
verwandtschaftliche Beziehungen besonders geeignet sind, diesen Punkt zu illustrieren:
Retro-Probleme im engeren Sinne, Märchen-Retros, Beweispartien und Probleme vom Typ
A->B, in denen die Aufgabenstellung darin besteht, den Weg von einem Diagramm A zu
einem Diagramm B herauszufinden (vgl. Thematurnier Andernach 2001). Allen vier Typen ist
gemeinsam, daß danach gefragt wird (entweder allgemein oder sehr spezifisch), was in der
Vergangenheit einer Position geschah. Der Typ A->B umfaßt dabei die anderen Typen;
denn bei diesen ist die gegebene Diagrammstellung quasi das "Nachher"-Diagramm
B, und es wird stillschweigend vorausgesetzt, daß die nicht abgebildete Anfangsstellung
(in der üblichen Partie-Aufstellung, mit eventuellen Änderungen, die explizit erwähnt
werden müssen) das "Vorher"-Diagramm A ist. Bei einem verallgemeinerten
Problemtyp A->B bliebe die Aufgabenstellung nun auch dann noch sinnvoll, wenn sich in
Diagramm A eine strenge Illegalität (im Sinne von Rice) nachweisen ließe.
Abenteuerlustige Komponisten sind somit aufgefordert, Probleme zu schaffen, die den neuen
Freiraum nutzen und zeigen, daß ein im strengen Sinne illegales Diagramm A akzeptabel
ist, insofern es die Darstellung neuer Ideen ermöglicht.
1 H. Weenink, The Chess Problem (Stroud: The Chess Amateur, 1926), S. 143 ff.
Das Buch Ketzer, Dilettanten und Genies: Grenzgänger der Philosophie (Hamburg: Junius Verlag, 1993) von Bernd Gräfrath, enthält ein ziemlich langes Kapitel über Emanuel Laskers Philosophie und Schachtheorie. Vielen Dank an Bernd Gräfrath und bernd ellinghoven für die Erlaubnis den Aufsatz auf
meiner Homepage nachzudrucken.
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