Poesie auf einem Brett
Problemschach als ästhetischer Ausdruck
Essay von Bo Lindgren - Stockholm
Der Aufsatz ist entnommen aus problem 127-132 (Seite 54-60) vom
September 1969. Das Heft war ausschließlich dem schwedischen Problemschach gewidmet.
Auf der Bühne erleben wir den Kampf zwischen Menschen als fiktiv. Im Schachproblem
erleben wir ebenfalls den Kampf zwischen Weiß und Schwarz als fiktiv, wenn er auch vom
Schachspieler als reell angesehen wird. Auf der Bühne interessiert es uns nicht so sehr,
dass jemand stirbt, sondern wir fragen uns, wie jemand seinem Schicksal begegnet. Im
Schachproblem interessiert es uns nicht, dass der eine Gegner den anderen besiegt, sondern
wir überlegen wie, welche Idee als Grund hinter dem Schlussergebnis liegt.
Das Leben, das wir auf der Bühne darstellen, ist immer konkret und voller Handlung. Dort
begegnen wir einem auf das Wesentliche reduzierten Leben, einem Leben das auch wir leben,
das aber so von Trivialitäten verwässert ist, dass wir nicht immer den Kontakt mit der
wahren Welt fühlen, wenn wir auch deren Anwesenheit intuitiv empfinden. Auch der
Schachspieler erlebt seinen Alltag. Vor jeder Partie macht er sich gewisse Hoffnungen,
aber entdeckt vielleicht bald darauf, dass die Partie, die er spielt, in bekannte
Wendungen hineingleitet, aus denen er keinen Ausweg findet. Er weiss, dass er einem in die
Länge gezogenen Positionsspiel entgegenzusehen hat, und dass die Ausgangslage wenig
Möglichkeiten zu spannenden Verwicklungen im Endspiel bietet. Trotzdem hat jede
gutgespielte Schachpartie interessante Momente, die einen entzücken können, und
untersucht man sie genau, so kann man Möglichkeiten finden, die nie verwirklicht wurden.
Man kann sagen, dass die Poesie des Schachproblems aus diesem selten Verwirklichten, oder
aus dem nie Verwirklichten hervorgewachsen ist. Das Nicht-Verwirklichte, das heißt das im
praktischen Spiel nicht zum Ausdruck gekommene, hat den ästhetischen Grund zum
Schachproblem gebildet. Das Schachproblem ist also aus dem praktischen Spiel
hervorgewachsen dessen meist charmierende und faszinierende Seiten in einer Richtung
reingezüchtet und entwickelt worden sind, welche im praktischen Spiel keine Verwendung
mehr hat. Bei dieser Entwicklung haben Künstlernaturen Beobachtungen auf dem Schachbrett
gemacht und haben das Erbe in einer Weise entwickelt, dass es an andere Kunst und deren
Entwicklung erinnert. In der Problemkunst bricht man also nicht die Spielregeln, sondern
bloss die normale Spielführung, auf die gleiche Weise, wie man in der Kunst alte
Konventionen bricht, um Ausdruck für etwas dreisteres zu geben, oder aus reiner
Schaffenslust eine neue Möglichkeit zu zeigen.
Beim Kontakt mit einem Schachproblem wird der Neuling dadurch verwirrt, dass es wie ein
Rätsel gestaltet ist. Mit der Zeit hat es seinen Rätselcharakter verloren und der
Schwierigkeitsgrad, der früher der Maßstab des Wertes war, ist durch einen immer
reicheren Inhalt ersetzt worden, um den sich das Interesse ausschließlich konzentriert.
Selbstverständlich werden nach wie vor Schachprobleme in Schachspalten und
Schachzeitschriften gelöst, aber der eindeutige Lösungsverlauf ist nur eine logische
Forderung an die Form, die dem Problem seine Abrundung gibt und den Inhalt verständlich
macht. Und der Inhalt ist ein Stück Lebens, ein Ausdruck für eine schachästhetische
Vision.
Die Konkretisierung, die man von der Lyrik fordert, fordert man auch vom Problemschach.
Mit der Konkretisierung in einem Gedicht meint man, dass die Metaphern glücklich gewählt
sind, die Symbolik durchdringend, die Sprache treffend ist usw.; das Schachproblem hat
keine Bildersprache; es erhält seine Konkretisierung in dem natürlichen
Spannungsverhältnis zwischen den weißen und den schwarzen Steinen. Die Schachsteine sind
das Arbeitsmaterial des Problemisten, durch sie drückt er sich aus. Die Komposition des
Problems zwingt die weißen, bzw. die schwarzen Steine zu bestimmten Zügen, und dem
Studium des Lösungsverlaufes tritt der Ideengehalt allmählich hervor, je nachdem
Variante nach Variante durchgespielt (studiert) und schließlich in Relation zueinander
gestellt werden. Ebenso wie der Inhalt eines Gedichtes allmählich Bild nach Bild eine
Vision beim Leser hervorbringt. Wenn der Problemist das Brett mit Figuren überlädt geht
das Gleichgewicht verloren; befinden sich im Lösungsverlauf auffallende, aber nicht
dazugehörige Züge, d.h. Züge, die nicht den Zweck haben, den Eindruck des wesentlichen
Ideengehalts zu verstärken, so wird das Problem unklar wirken. Jeder Einfall aber, den
der Problemist auf eine glückliche Weise mit seinem Grundthema vereinigen kann, erweitert
natürlich das Kunstwerk. Wenn der Problemist andererseits seine Idee zu korrekt darstellt
geht die "Atmosphäre" dabei verloren und das Problem wird blutarm. Der
Kunstmaler stellt Licht gegen Licht, Farbe gegen Farbe und gibt in der Auswahl dem Motiv
seine Atmosphäre. Der Problemkomponist muss einen Ton im Ansatz finden, der der
Herstellung eine Kontur gibt. Das Problem des Einen kann beim ersten Anblick elegant und
mit einer elastischen Stellung sein, aber bei näherem Studium erweist es sich als
ziemlich oberflächlich. Das Problem eines Anderen kann mit seinen Figurenanhäufungen und
anderem recht schwerfällig wirken, aber es erweist sich, dass es die richtige
künstlerische Folgerichtigkeit hat. In seltenen Fällen sind sowohl der Anblick als auch
der Inhalt ansprechend.
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