2.Fortsetzung
Poesie auf einem Brett
Problemschach als ästhetischer Ausdruck
Bo Lindgren - Stockholm
Gewisse Themata wurden schon vor achtzig Jahren diskutiert, konnten aber zu der Zeit
nicht dargestellt werden, weil man eine unentwickelte Kompositionstechnik anwandte. Ein
dramatisches Werk enthält immer eine "Story", eine Fabel. Um Aristoteles zu
zitieren ist es gerade in der Fabel, dass der Künstler beweist, dass er Dichter ist. Auch
der Problemist demonstriert sein Talent beim Entwerfen der Idee, in der Auswahl des
Materials und in der Anlage des Kompositionsmusters. Ein Problemist, wie um ein
Beispiel zu bringen der Tscheche Miroslav Havel arbeitet mit einer auserlesenen
Leichtigkeit am Brett, in offenen natürlichen Stellungen, mit einem Minimum von Figuren,
einem konzentrierten Inhalt, aber jede Bewegung scheint ohne Zwang vor sich zu gehen.
Seine Produktion ist übrigens sehr abwechslungsreich, aber trotzdem sehr einheitlich. Die
Tschechen haben eine Reihe erstklassiger Problemisten hervorgebracht, die alle der
Böhmischen Schule treu geblieben sind.
Um eine Probe der Temperamentsunterschiede zu geben wären jetzt einige
Demonstrationsprobleme geboten, aber die bloße Kenntnis der Spielregeln genügt nicht, um
die Nuancen in einem Schachproblem gefühlsmäßig aufzufassen. Regelmäßige
Beschäftigung ist erforderlich, wenn der Kontakt über das rein Intellektuelle reichen
soll. Die Schwierigkeit erkennt man wieder beim Lesen von Lyrik in fremden Sprachen. Der
begrenzten theoretischen Sprachkenntnisse wegen erfaßt man nie die feineren Werte. Es
klingt paradox es kann aber auch für die Muttersprache gelten, um einen Vergleich
damit zu machen, was ich gleich erwähnen will, nämlich das Verhältnis des praktischen
Schachspielers zur Problemkunst. Das Interesse am Schachproblem ist in den letzten Jahren
unter den Schachspielern größer geworden, aber im Allgemeinen hat der Schachspieler
ich habe den normalen Turnierspieler im Auge leider nur wenig Fühlung mit
dem Schachproblem. Die Ungewohnheit hindert ihn am Erlebnis. Scherzhaft könnte man sagen,
dass die Problemkunst hierdurch in Schachkreisen ihre soziale Problematik bekommt.
Wie schaut denn der Schachspieler auf ein Schachproblem? Er will am liebsten, dass es
einer Partiestellung ähnlich sein soll, d.h. der Wirklichkeit, der Wirklichkeit des
Schachs. Für einen Problemisten ist aber die Stellung natürlich, die im Verhältnis zu
ihrer Idee natürlich ist. Die umgeformte, aber nicht vergessene Wirklichkeit. Das Brett
ist da, die Figuren sind da, die Regeln sind dieselben (in den meisten Fällen) und der
König wird Matt auf die gleiche Weise in einem Schachproblem, wie in einer Partie. Die
diesem scheinbar widersprechenden Abweichungen will aber der Problem-Ungewohnte nicht
anerkennen.
Wie in der Malerei, so können auch im Problemschach die Richtungen mehr oder weniger
radikal sein. Die Gegensätze sind auch nicht ausgeblieben, und vor einigen Jahren war die
Reaktion der älteren Generation gegen die sogenannten Zweizüger sehr stark. Man sah
hierin um ein treffendes Bild zu nehmen einen schachlichen Moralverfall. Man
hatte noch die romantische Periode der "Good Companion" Zeit der 20-er und 30-er
Jahre in Erinnerung und war von ihr beeinflußt. Damals saß die Nase noch mitten im
Gesicht, damals hatte der alte Atavismus vom Spielschach, dass ein Problem schwer zu
lösen sein müsse, noch eine gewisse Bedeutung. Nicht alle der heutigen Problemisten sind
ebenso fleißige Löser, und viele sähen es sogar am liebsten, wenn die Lösung direkt
gleichzeitig mit dem Urdruck publiziert werden würde, damit der Inhalt unmittelbar
zugänglich sei.
Die Verbindung des Problemschachs mit dem Spielschach hat sich in den letzten hundert
Jahren allmählich vermindert. Geblieben ist eine Kunstart (in gewissen Fällen eine
extrem entwickelte Kunstart), fern von älteren und mehr leicht faßlichen Idealen. Und
die Entwicklung geht weiter neue bis jetzt noch nicht auf dem Brett verwirklichte
Ideen erscheinen in der Diskussion. Hier kann man tatsächlich von einer Tendenz sprechen,
die die Gedanken auf die Entwicklung der modernen Kunst und deren Distanzierung
scheinbare und reelle von der Wirklichkeit führt, mit der sie früher so
eng verbunden war.
Es ist verständlich, wenn der Schachspieler Partiegesichtspunkte an ein Schachproblem
anlegt, wenn das Schönheitserlebnis an ihm vorübergeht. Das Erlebnis, das ein wohl
komponiertes Problem einem Problemliebhaber gibt, wartet darauf, bei ihm Anklang zu
finden. Eine gewöhnliche Frage ist daher "Was hat man von einem Schachproblem für
Nutzen?" Der Schachspieler hat insofern Recht, weil eine Problemstellung nur mit
großer Unwahrscheinlichkeit in einer Schachpartie entstehen kann, und deshalb eine
praktische Erfahrung auch nicht zu erwarten sei. Wer spricht im praktischen Leben wie ein
Dichter?! Der Problemist geht einer anderen Sache nach, als der Schachspieler. Er kann
keine guten Ratschläge geben, will aber die Phantasie anregen. Er hat die Vision einer
verborgenen Kraftreserve auf dem Brett, und diese will er zu jedermanns Eigentum machen.
Als der Dichter, der er ist, will er die Augen für die Seiten in unserer Natur öffnen,
die beim Erwachsenwerden stockten: Jugendlichkeit und Spontaneität. Es ist in seiner
Weise ein Suchen auf dem Schachbrett nach der verloren Spur.
Der Problemist ist in der Regel kein aktiver Spieler. Seine Kampflust befriedigt er auf
einer inneren Ebene. Er will sicher Herr über seine Figuren werden, aber sein Ziel ist
friedlich. Die Beschäftigung mit den Problemen macht den Problemisten beinahe
zwangsläufig zu einem guten Spieler. Die Kompositionsarbeit vergrößert die
Feinfühligkeit und erweitert das Assoziatonsvermögen, was die Anpassung an die
verschiedenen Phasen einer Schachpartie erleichtert. Probleme zu lösen ist für den
Schachspieler ein Weg die Phantasie zu erneuern. Die abweichenden Problemstellungen sind,
was Auge, Intellekt und Gefühl benötigen, um alte Zirkel zu brechen. Und neue zu
schaffen. Man kann sagen, dass das Schachproblem dem Schachspieler das geben soll, was
Poesie gewöhnlichen Menschen gibt. Um auf den Gesichtspunkt des Nutzens zurückzukommen
glaube ich, dass die reinen Schachprobleme dem Spieler mehr zu geben haben, als das
Endspiel, an dem sich viele üben.
Wie ist der Verlauf eines Schachproblems? Wenn wir ein Problem vom Typ "Weiß zieht
an und setzt mit dem 2. Zuge Matt" nehmen, so bedeutet das, dass Weiß in dieser
Stellung einen Einleitungszug macht, auf den Schwarz eine größere oder kleiner Anzahl
scheinbarer Verteidigungen hat. Diese Verteidigungen werden später entscheiden, welchen
Zug Weiß seinerseits wählen muß, wenn er seinen zweiten Zug macht und den schwarzen
König matt setzt. Es ist wichtig, dass Weiß auf jede schwarze Verteidigung nur einen
bestimmten Zug zur Verfügung hat. Hierdurch entsteht ein einheitliches sogenanntes
Mattnetz, das ein Muster von Zügen und Matts ist, aus denen man später den Ideengehalt
selbst ersehen kann. Es ist also klar, dass die Züge und Matts des Kompositionsmuster in
irgendeinem Verhältnis zueinander stehen. Wenn man diese Relation entdeckt (die meistens
sehr übersichtlich ist), hat man auch die Idee des Problems entdeckt.
In jeder Kunst gibt es ein Überraschungsmoment. Wie der Dichter aus der Sprache neue
Werte gewinnen will, so will der Problemkomponist in seiner Tätigkeit eine neue Dimension
aus dem Schachmaterial gewinnen. Das Schachproblem ist also kein Rätsel zum Lösen. Es
enthält ein Geheimnis, wie alle Künste und die Ursprünglichkeit gibt die Originalität.
Es fällt unschwer einzusehen, dass Kunst Sprache ist, und dass das Kunsterlebnis
Aufmerksamkeit für diese Sprache fordert. Die Zeit ist schon längst vorbei, als man die
Ausdrucksform durch das Motiv bei der Hausecke bestimmen ließ. Was die moderne Kunst u.a.
will (vielleicht vor allem will) ist, das Individuum für diese komplizierte Welt
vorzubereiten, die unerbittlich heranwächst und neue Stellungnahmen fordert. (Was sagt
uns zum.Beispiel der Autoreifen um die Ziege Rauschenbergs im Moderna Musset, bevor wir
eine Erläuterung des Kunstkritikers gehört haben?)
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